Wenn’s um Sinnlichkeit geht, sind kleine Lügen ohnehin gang und gäbe – Frauen täuschen Höhepunkte vor, Männer protzen mit ihrer Potenz und mit ihrem Erfolg bei Frauen… Aber spätestens ab der Lebensmitte – wenn die Liebeskraft nachlässt, weil eben nicht nur das Gesicht altert, sondern auch die Keimdrüsen, weil nicht nur die Gelenke Abnutzungserscheinungen haben, sondern auch die Libido – ab diesem Zeitpunkt wird sensuell mehr denn je gemogelt, geschwindelt und gelogen.
In einer Partnerschaft ist ein gewisses Maß an Täuschung zwar durchaus legitim, manchmal auch notwendig, um dem Anderen nicht wehzutun und ihn nicht zu verunsichern. Aber zwischen barmherzigen und echten Lügen ist ein Unterschied.
Niemand von uns bleibt von Veränderungen der voran schreitenden Jahre verschont. Umso ärgerlicher finde ich es, wenn Menschen in und ab der Lebensmitte mit ihrem Intimleben zu prahlen beginnen: „So toll wie jetzt war es noch nie!“ oder „Jetzt geht’s erst richtig los.“ Hört eine, sagen wir 50jährige Frau solche Behauptungen, fragst sie sich wohl „Warum ist das bei mir nicht so? Bin ich die Ausnahme von der Regel?“ Auch ein Mann gleichen Alters wird angesichts solcher Aussagen mit seinem sexuellen Schicksal hadern: „Warum haben immer die anderen Männer die orgasmusfähigeren Frauen? Warum bin ich nicht so potent wie ein Gleichaltriger?“ Wenn ein vitaler Sechziger einem Gleichaltrigen gegenüber behauptet, seine Gefährtin immer zweimal hintereinander zu beglücken, ist dies nur unnützes Imponiergehabe… und er versetzt damit dem Selbstbewusstsein seines Geschlechtsgenossen einen K.O.-Hieb. Um nicht wie ein angeschlagener Boxer in den Seilen zu hängen, muss dieser wohl oder übel parieren: „Wir sind schon 27 Jahre zusammen und lieben uns noch immer viermal in der Woche.“
Noch mehr Unheil wird unter Frauen angerichtet. Nicht weil Frauen mehr lügen als Männer, sondern weil sie mehr und intimere Gespräche führen… bei denen zwangsläufig auch mehr geschummelt wird. Immer wieder begegnen mir verunsicherte Frauen in der Lebensmitte mit der Frage, was sie denn nur tun könnten, um „genau so viel Lust wie andere Gleichaltrige zu haben…?“. Meist kann ich sie beruhigen, weil ihr Lustpotenzial ohnedies genau so hoch ist, wie das ihrer Freundinnen – nur haben die Anderen wieder mal maßlos übertrieben…!
Das Feuer wird zur Glut
Warum sollte mit zunehmendem Alter ausgerechnet in der Sensualität das Feuer mehr lodern, wenn auch andere Feuer milder werden? Mit 50, 55, 60 Jahren läuft und isst man anders als mit 30, man fährt auch anders Ski oder geht anders die Stiegen hinauf. Vieles wird mit mehr Bewusstsein, vielleicht sogar mit mehr Freude gemacht. Aber es ist anders. Das gut, richtig und normal. Natürlich gibt es immer wieder Ausnahmen, welche die Regeln bestätigen. Aber zwei Menschen, die seit 25 oder 30 Jahren Tag für Tag miteinander unter die selbe Decke schlüpfen, reißen sich meist nicht mehr die Kleider vom Leib vor lauter ungebändigter Lust.
Das sinnliche Feuer der Jugend lodert und ist oft nicht zu kontrollieren – es richtet daher manchmal auch Schaden an und erstickt das, was eine Begegnung hätte enthalten können. Die Sensualität der reifen Jahre ist wie eine Glut – sie wärmt tiefer, umfassender und bewusster. Unbezähmbar ist sie nicht mehr. All jene, die das behaupten, erweisen nicht nur den Anderen einen schlechten Dienst, sondern auch sich selbst. Denn wer nicht einmal im reifen Alter zu sich stehen kann, läuft Gefahr, dass er sich die mögliche Lust des Augenblicks zerstört… Würden Menschen in den goldenen Jahren der Lebensmitte sexuell so gierig sein wie 20-Jährige, dann würden sie das heute übliche Erwartungsalter von 80 bis 85 Jahren gar nicht erreichen. Alles hat seine Zeit, auch die Schönheit und die Geilheit.
Quelle von Sein und Nähe
Sinnlichkeit – egal ob im Sinne von Verschmelzung oder Streicheln, Küssen, zärtliche Umarmungen – ist eine der intensivsten Erfahrungen, die das Beziehungswesen Mensch machen kann. In einer aktuellen Umfrage unter 2000 Freuen und Männern ab 50 sagten 92%, dass ihnen sexuelle Begegnungen in jeglicher Form ein besonderes Seins- und Nähegefühl vermitteln. Es wäre doch jammerschade, diese Quelle der zwischenmenschlichen Akzeptanz und Nähe versiegen zu lassen, nur weil man nicht weiß, wie man mit den Veränderungen der besseren Jahre umgehen soll.
Mit etwas 40 Jahren beginnt wohl jeder von uns, sich mal zu fragen: „Wie wird das mit meiner sexuellen Kraft weitergehen?“ Die Versuchung, nicht ganz genau hinzusehen und Ängste und Zweifel zu verdrängen ist groß. Dann spricht ER nicht darüber, dass er schon längst spürt, wenn sie ihren Orgasmus nur vortäuscht. Und SIE spricht nicht über ihre Ahnung, warum er nicht mehr zärtlich ist – weil er sich schämt, dass seine Erektion nun ein wenig länger auf sich warten lässt. Dann tun beide so, als wäre alles wie früher. Ein scheiternder Pakt: Das Täuschungsmanöver raube so viele Energien, dass es oft erleichternd ist, wenn man jede sexuelle Aktivität aufgibt. Später wird bewusst, dass damit gleichzeitig Näheerlebnisse und eine Intimitätsebene verloren gehen, die nicht nur Lust, sonder auch Geborgenheit, Freude, Stabilisierung und Schutz nach außen bedeuten.
Lustvolle Veränderungen
„Adaptive Fitness“ lautet einer der neuen Begriffe der jungen Generation. Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich flexibel an veränderte Situationen anzupassen. Adaptive Fitness sollte auch bei der Sexualität kein Privileg der Jugend sein. Bei reiferer Sinnlichkeit wird das Vorspiel wichtiger, denn es dauert länger, bis der Erregungsaufbau in Schwung kommt. Sowohl die Signale, die ein Paar untereinander austauscht, als auch Dauer und Intensität der körperlichen Stimulationen vor dem Verkehr verlangen oft nach einer Dosissteigerung.
Es ist normal, wenn eine reife Frau nicht mehr so feucht wird wie früher. Macht nichts, dafür gibt es Gleitmittel. Auch die Empfindlichkeit der Klitoris und der Eichel verändern sich mit den Jahren. Männer sagen oft nicht, dass sie stärkere Stimulationen brauchen, Frauen verschweigen, dass sie sich sanftere oder schnellere Liebkosungen der Klitoriszone wünschen.
Bei vielen Männern nimmt in den Jahren nach 40 auch die Empfindlichkeit der Brustwarzen zu. Oft trauen sie sich aber nicht, unbefangen darüber zu reden – der Wunsch nach Stimulation eines für sie „weiblichen“ Organs erscheint ihnen zu unmännlich. So wie es vielen Frauen „unweiblich“ erscheint, wenn sie mit zunehmenden Jahren merken, dass sie gern einen aggressiveren sensuellen Stil hätten. Dabei ist auch hier alles im grünen Bereich. Mit den Jahren verschiebt sich bei Frauen und Männern die Ausschüttung des Ostrogens, beziehungsweise des Testosterons. Dadurch können Männer in ihrem Fühlen „weiblicher“ und Frauen „männlicher“ werden. Dem entsprechend anders werden auch die erotischen Bedürfnisse.
Reife bringt Qualität
Auch was die weibliche Orgasmusfähigkeit in der zweiten Lebenshälfte betrifft, gibt es gute Nachrichten: Alle diesbezüglichen Studien zeigen, dass sich das Orgasmuserleben bei reifen Frauen nicht wesentlich verändert – orgasmusfähige Frauen bleiben dies auch noch mit 60, 70 oder 80 Jahren. Natürlich vorausgesetzt, die Sinnlichkeit findet auch unter den nötigen Bedingungen statt, die dazu gebraucht werden. Auch hier gilt: Wer nicht sagt was er braucht, bekommt es nicht.
Nicht bei alten Mustern bleiben!, heißt es also grundsätzlich. Und: Nur keine normativen Einschränkungen! Durch selbst auferlegte Verhaltensgrenzen, durch Überlegungen und Bedenken (z.B. „Wie schaut denn das aus, wenn ich in meinem Alter dies oder jenes tue…!?“) gehen viele Erlebnismöglichkeiten verloren. Die Lebenserfahrung eines halben Lebens bringt die Chance, sich mit mehr Mut und Gelassenheit den Veränderungen der eigenen sinnlichen Wünsche und Gegebenheiten zu stellen. Dazu gehört auch, dass man die Aktivität bei der Sensualität den körperlichen Möglichkeiten anpasst: Wenn es hier oder da zwickt oder unangenehm wird, dann macht man es sich eben angenehmer und bequemer! In einer langjährigen Partnerschaft ist ja bestenfalls auch das Vertrauen gewachsen, um miteinander neue Wege für ein gegenseitig befriedigendes sinnliches Leben zu besprechen und zu finden.
Und hoffentlich erlaubt man sich dann auch den Humor im Bett, zu dem man vor zwanzig, dreißig Jahren noch gar nicht fähig gewesen wäre…!
Tantra auch für reife Menschen
Die Weiterentwicklung und die neue Ebene der reifen Sensualität kann Tantra in besonderem Masse als zu erlernende Kunstform fördern. Ganz junge Menschen kommen eh sehr selten in Tantrakurse, weil sie sich anderweitig erst einmal „die Hörner abstoßen müssen“. Darum treffen sich mehr reifere Menschen im Tantra, die mit der Frage kommen: „War das schon alles in meinem Liebesleben, oder wie geht es weiter?“ Ein Baum, der nicht mehr wächst, der stirbt. Und so ist es auch mit der Entwicklung der Sinnlichkeit. Sie wird vielleicht nicht mehr im Alter aber dennoch besonders und besser durch Tantra.
Ich denke, dass Religionen, Ideologien und politische Systeme alle von Menschen geschaffen wurden. Um aber ein wirklich sinnvolles Leben zu führen, muss man nicht an eine Religion oder eine Ideologie glauben, solange Du von tiefer Liebe und Mitgefühl für andere Lebewesen motiviert bist.
Dalai Lama