Die Welt des Tantra ist eine Welt voller Natürlichkeit, Absichtslosigkeit, frei von Motiven und Streben. Der Tantriker lebt, ist offen für die Bewegungen des Daseins und empfängt alle Ereignisse mit offenen Armen. Der Tantriker, die Tantrikerin weiß, dass er/sie den Nöten und Problemen nicht mehr mit Kampf, mit Macht oder Anstrengung antworten muss. Der Mensch des Tantra lebt vollkommen in der Gegenwart und ihrer sinnlichen Realität. Klar besitzt er eine Fülle von Erinnungsvermögen, aber benutzt diese Erinnerungen nicht, grübelt nicht an Problemen herum. Er lässt die Gedanken kommen und gehen ohne sich mit ihnen zu befassen oder sie festhalten zu wollen. Es gibt nichts was er Besseres werden könnte und er besitzt keinen Ehrgeiz nach Ehre und Ruhm. Ihm genügt sein eigenes erfülltes Leben. Es ist ihm unwichtig, wie dieses Leben aus der Sicht anderer Menschen beurteilt wird, schließlich lebt er für sich und nicht für die Leute seiner Umgebung.
Im Bewusstsein der milden Aufmerksamkeit und neugierigen Wachheit haben sich die Dinge eines Tantrikers von innen heraus gewandelt. Er ist nicht frei von Wünschen, aber er hängt nicht daran, ähnlich einem kleinen Kind. Er ist fähig, sich materiellen Besitzes zu erfreuen, aber er besitzt, nicht der Besitz besitzt ihn.
Von keinem Menschen von keiner Institution nimmt er Weisungen entgegen, wie sein Innenleben, wie sein Charakter beschaffen sein soll oder wie er sich seinen Mitmenschen gegenüber zu verhalten hat. Er denkt nicht nach über Moral und Gerechtigkeit, er weiß er handelt richtig, wenn er gemäß den spontanen Impulsen des Herzens handelt, die sich stets zur rechten Sekunde einstellen.
Er genießt es, Diener einer höheren Macht und Intelligenz zu sein, im Wissen, wie eingeschränkt, eng und klein unser Ego ist.
Die durch ihn wirkende grenzenlose Intelligenz findet die Lösung für ihn weit rascher und besser, als sein eigener begrenzter Intellekt es schaffen könnte. Er tritt in Aktion, wenn der Impuls ihm das sagt, dann ohne Zögern ohne Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns. Der Tantriker ist ausgeglichen, seine Stimmung ist in der Regel voller Harmonie und Ruhe. Gefühle kann er rauslassen mit den Energiewogen mitgehen, ohne sich darin zu verbeißen, das macht seine Lebendigkeit und Menschlichkeit aus.
Der Tantriker hat gelernt, sich an nichts, rein gar nichts zu binden. Da er losgelassen hat, wohnt ihm eine vollkommene Gelassenheit inne. Nie wird er darum auf Ungewohntes, Unerwartetes nervös oder gereizt reagieren.
Das Thema eines Tantrikers ist immer Grenzüberschreitung, denn Freiheit ist nichts anderes. Der Tantriker versucht alle inneren Bindungen aufzulösen, auch wenn er äußerlich sehr verantwortungsvoll und zuverlässig sein kann. Warum viele Menschen damit Probleme haben, ist das Gefühl der Unsicherheit.
Aus Streben nach Sicherheit werden Liebe und Glück, sogar manchmal die eigene Gesundheit, geopfert. Solange jemand an eine Institution, Ideologie oder Organisation gebunden ist, empfängt er aus dieser Bindung Sicherheit. Er fühlt sich integriert in die Gesellschaft und seine Anpassung an ihre Ordnung und Spielregeln vermittelt ihm ein Gefühl von Geborgenheit. Er findet Halt in seiner Partnerschaft, im Beruf, in seinen alltäglichen festgefahrenen Gewohnheiten. All dieses gewährt einen Anschein von Sicherheit, und diese scheint der Mensch zu brauchen, ist sie doch das einzige, was die Misere der hochgradigen inneren Unfreiheit der Menschheit ein wenig verzuckert. Dabei ist diese Sicherheit absolut trügerisch, sie ist relativ, in Wahrheit existiert sie nur als intellektuelle oder emotionale Vorstellung, es ist eine Beruhigungspille mit Dauerwirkung. Diese Dauerwirkung hält aber gewiss nicht bis zum Tode an. Und die Nebenwirkung dieser Pille sind leider: Dumpfheit, Unlebendigkeit, keine Spontanität mehr, eine getrübte, vernebelte Wahrnehmung und ein Einschlafen der Fähigkeit, einen Moment wie ein Kind intensiv und spritzig zu erleben voller Ekstase.
Irgendwann wird jeder einmal gezwungen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, der eine früher, der andere später. Denn eine gedankliche Konstruktion von Sicherheit ist keine. Und wenn dann das Leben mit ernsthaften Herausforderungen an uns herantritt, das Sicherheitsgefüge rings um uns zerbricht, dann stehen wir nackt da, wie eine Muschel, die ihrer schützenden Schale beraubt ist. Der Mensch, dem das widerfährt, und es geschieht weltweit millionenfach täglich -, muss dann wahrnehmen, dass er auf Sand gebaut hat. Er sieht sich aller Stützen und Orientierungspunkte beraubt. Aber oft macht er gerade dann eine bestürzende Erfahrung, die die meisten von uns nicht zu deuten wissen: Wenn Du in Deinem Leben bereits einmal eine tief greifende Krise durchgemacht hast, die bis an die Fundamente Deiner Existenz reichte, dann wirst Du Dich erinnern, dass die Wendung zum Besseren, Neuen just in diesem Moment eintrat, als Du Dich zu erschöpft zum Weiterkämpfen total aufgegeben hattest. In diesem Moment hast Du nichts anderes erfahren als das Wunder der Hingabe an eine größere Macht, das Göttliche, das es schlussendlich immer gut mit Dir meint. Das Göttliche tritt in einem solchen Augenblick der Hingabe, des Loslassens, der Offenheit mächtig in unserem Leben in Erscheinung, wo wir die Hand vom Ruder nehmen und aufgeben. Dann kann diese ungeheure Macht für uns wirksam werden und wir fühlen uns unendlich geliebt und unendlich beschenkt und glücklich.
Genau deshalb strebt ein Tantriker nicht mehr nach Sicherheit im Leben, sondern will nur diesen Moment in innerer Stimmigkeit leben. Der Tantriker weiss dass alle äußeren Sicherheiten sehr zerbrechlich und illusionär sind. Daher sucht er stets all die Anhaftungen an Bindungen zu verringern und sie innerlich ganz aufzulösen.
Ein Tantriker glaubt nicht an Autoritäten, sondern an eigene Erfahrung. Er entfernt sich von Hoffen und Harren, Vorfreude und Zukunftssorgen sondern bleibt in der Gegenwart, die alle Fülle und Erfüllung beinhaltet, die Mensch braucht.
Er ist fleißig aber in ihm wohnt keine Arbeitswut. Er benutzt Arbeit ebenso wenig als Fluchtweg, wie er sich in anderweitige übertriebene Aktivitäten stürzt, um eine Schwäche zu kompensieren. Er arbeitet um des Vergnügens der Arbeit willen, nie getrieben in Aktivismus, des „schnell noch alles fertig machen wollens“. Er lässt sich nie unter Leistungsdruck setzen. Und doch ist er leistungsfähiger als viele, die unter höchstem Energieeinsatz schuften. Durch seine innere Ruhe macht er weniger Fehler und geht weniger Umwege sinnlosen Tuns.
Er ist aufgeschlossen für menschliche Kontakte, gibt sich ungezwungen, offen und frei. Er ist nicht rechthaberisch, vertritt aber klar seinen Standpunkt, ohne aggressiv zu sein oder andere überschreien zu wollen. Für Diskussionen hat ein Tantriker nichts übrig, denn er weiß: Jeder hat recht von seinem Standpunkt aus. Von Politik lässt er die Finger, aber beobachtet das Weltgeschehen sehr aufmerksam. Er weiß: jeder kann jeden Tag einen kleinen Beitrag leisten, das Leben und die Welt in die richtige Richtung zu bringen.. Er strebt nicht nach Einfluss in der Gesellschaft und hat keine Neigung, dort eine Rolle zu spielen.
Er ist nicht genusssüchtig, aber voller Lebensfreude. Wenn er genießt, lebt er den Genuss voll. Wenn er genossen hat, ist der Genuss für ihn vorbei, weder in Gedanken noch in Wünschen hängt er dem vergangenen Vergnügen nach. Er schreitet weiter, bis ihm ein anderer Anlass zum Genießen begegnet. Er selbst sucht die Anlässe aber nicht, er jagt ihnen nicht nach, sie bestimmen nicht seinen Lebenslauf. Für ihn gibt es keinen Grund, sich hinter Gewohnheiten zu verstecken, die ihm Lustgewinn bringen und ihn von der Misere des Lebens ablenken. Er stellt sich dem Leben ohne Furcht und benötigt derlei Ablenkungen nicht. Dennoch sorgt er weise für Abwechslung auch von guten Routinen. Sein Leben hat einen guten Rhythmus, wie Musik. Eine Balance von innen und außen, Entsagung und Genuss, Begegnung und Einsamkeit, Arbeit und Stille, Aktivität und Faulsein. Er braucht keine Ablenkung oder Unterhaltung oder übertriebenen Konsum, um eine falsche stressige Einstellung zur Arbeit auszugleichen.
Auch wenn der Tantriker Chef ist oder führt, verliert er nie aus dem Auge, das er selbst Mensch ist und einer unter Vielen. Er weiß immer, dass seine Mitmenschen gleich ihm voller Sehnsucht nach Zuneigung, Liebe, Wertschätzung und Menschlichkeit sind. Nach diesen Maximen handelt er. Profit bedeutet ihm nichts. Schlamm und Gold betrachtet er gleich. Er strebt weder nach Gewinn noch nach Reichtum, vertraut aber wie ein Kind oder ein Tier oder eine Pflanze, das das Leben ihn immer nähren wird. Er weiß, dass das Streben nach Reichtum ihn unfrei machen würde.
Im Wissen der Einheit aller Menschen ist die Freude und das Glück eines anderen für den Tantriker genauso schön wie eigenes Glück. Er sieht sich selbst als göttlich an und würdig, alles Schöne zu empfangen, genauso wie andere.
In einem Liebesverhältnis, einer Partnerschaft oder Ehe bewahrt er sich seine Selbstständigkeit und innere Freiheit. Er macht sich auch nicht zum Sklaven der Bedürfnisse der eigenen Kinder. Er ist fähig zu lieben, ohne besitzen zu wollen. Er betrachtet den Partner nicht als Privatbesitz, lässt sich aber ebenso wenig auf diese Art vereinnahmen. Er bewahrt seine Selbstständigkeit und ist doch zu großer Liebe fähig. Ja, Liebe kann eigentlich nur unter diesen Umständen gedeihen.
Er lässt alle sein, wie sie sind, aber selbst hält er sich aus aller Verwirrung heraus. Er hat schon vergeben, bevor er einen Fehler bei anderen sieht. Er weiß, dass es aus göttlicher Sicht keine Fehler gibt. Er drängt niemandem seine Meinung auf, versucht nicht andere zu seiner Lebensphilosophie zu bekehren. Zwangsläufig ist der Tantriker Vorbild, und dieses Vorbild wird von anderen gesehen. Er will aber kein Guru, kein Führer sein, weil er weiß, dass jeder Mensch den Schritt zu sich selbst alleine tun muss. Der andere, der ihm den Weg weist, ist bestenfalls eine Landkarte, das Wegkreuz, eine Leiter zum Dach. Der Weg selbst, die Landschaft, die Straße, das ist der Einzelne selbst.