Das Ziel aller spirituellen Übungen ist die Wiederentdeckung seiner wahren Identität mit der göttlichen Wirklichkeit.
Zur Erlangung dieses Zieles schreiben viele Religionen und spirituellen Wege die Anwendung schärfsten Unterscheidungsvermögens und Entsagung vor, was nur von wenigen durchgehalten werden kann, die scharfe Intelligenz und unerschütterliche Willenskraft besitzen. Tantra hingegen bezieht die menschlichen Schwächen in Betracht, ihren Appetit auf Sinnesobjekte und ihre Liebe für das Konkrete.
Der Durchschnittsmensch will die materiellen Objekte genießen. Tantra lässt ihm den Genuss, führt ihn aber dazu, auch darin die Gegenwart Gottes zu entdecken. Durch mystische Riten werden die Sinnesobjekte spiritualisiert und die Sinneskraft in Liebe zum Göttlichen umgewandelt.
„Sei offen für jeden Genuss der Sinne, aber suche nicht danach und plane ihn nicht. Versuche nicht den Genuss zu wiederholen, egal wie schön er war. Lasse jeden Genuss einmalig sein.“
Diese Worte kamen mir vor ein paar Tagen.
Die Kunst des Genusses ist die Kunst, unverhaftet zu sein. Normalerweise versuchen wir uns an das schöne, das glückliche Erlebnis anzuklammern. Wir kleben geistig daran, als hätten wir Angst, dass es uns wieder entfliehen könnte oder für immer verloren wäre…Doch der wiederholte, zweite Genuss ist oft nicht mehr so tief und stark wie der erste und der dritte schwächt sich meist noch mehr ab.
So wollen wir immer mehr, werden aber nicht satt, weil wir uns an die äußere Freude des Genusses verhaften. Das Herz bleibt aber hungrig, die Seele unerfüllt. Wir verwechseln dann das Objekt des Genusses mit der Freude, die in der Seele liegt. Denn nur durch die Seele können wir Freude empfinden, das Objekt ist nur ein Medium. Während wir genießen dürfen wir aber nicht denken, das Medium gebe uns die Freude von außen, sondern sollten während dessen unserer göttlichen inneren Natur, eins mit der Göttin, eingedenk sein. Das äußere Objekt ist nicht der Genuss in Wahrheit, sondern Deine Seele. Wenn wir uns mit dem Objekt identifizieren und anhaften geraten wir oft in Suchtstrukturen, weil wir den gleichen Reiz immer öfter und stärker wollen (Sex, Zucker, Alkohol, Arbeiten, Helfen, Unterhaltung, Romanzen). Das liegt daran, dass wir nicht zum Kern der Freude vordringen. Der Kern ist ananda = Glückseligkeit, wie die alten Inder diese Eigenschaft Gottes benennen. Es ist eine Freude die irgendwann nicht mehr durch äußere Reize ausgelöst wird, sondern einfach immer von innen strahlt. Es ist Deine wahre Natur ohne Sorgen, Planen, Denken. Dafür ist innere Stille und innere Leere notwendig. Nur wenn nicht ständig die Störfelder Deiner Gedanken inneren Lärm erzeugen, kann die große Göttin in Dir Platz nehmen und sich ausbreiten. Erst wenn auf dem Markt die Stände mit den Schreiern abgebaut wurden, kann die Bühne für das göttliche Theaterstück aufgebaut werden.
Deine Ausstrahlung ist Dein Potential minus Störung. Es gilt also die Störungen immer mehr zu reduzieren. Das ist die innere Arbeit der Meditation und seine routinierten Süchte zu reduzieren. Ja, auch der angenehme Geschmack eines Erdbeereises am Gaumen ist eine Ausformung von ananda, der göttlichen Glückseligkeit und auch der Orgasmus ist es. Doch sobald wir nicht zum Inneren vordringen, landen wir in der Sucht.
Daher brauchen wir den Genüssen im Tantra nicht zu entsagen, aber dem Fest-Halten-Wollen eines Genusses, einer schönen Situation. Denn Millionen andere Genüsse werden folgen, wenn Du wach und offen bist. Dein Geist wird nur dann nicht leiden, wenn Du den Genuss nicht zum Konsum, zur Manie oder zum Gefängnis machst.
Genieße, aber plane danach nicht den folgenden Genuss. Das ist der Weg des Tantra, das ist der Weg zur Seligkeit. Dann erkennst Du irgendwann, dass alles von reiner Seligkeit durchdrungen ist.